poligons1

«Supplements: nur dann gewünscht, wenn das Menu schmeckt»

clinicum, 6/22

Bild: Dorian Massari

Im Zeichen des sich verschlimmernden Fachkräftemangels kommt dem Gewinnen und Behalten qualifizierter Mitarbeitenden grösste Bedeutung zu. Das ist zugleich eine Chance für Institutionen im Gesundheitswesen, sich zu profilieren und ein klares Gesicht zu zeigen. Welche Rolle dabei die Unternehmenskultur spielt und wie sie zum Ausdruck gelangt, diskutierte in Meggen eine kompetente Runde erfahrener Expertinnen und Experten, sehr professionell moderiert von Unternehmensberater Urs Baumberger.

«In erster Linie sind das Führungsverhalten und die Kompetenz im Kader matchentscheidend dafür, dass eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens und des persönlichen Engagements entsteht, was wiederum die nachhaltigste Basis für den langfristigen Erfolg darstellt», eröffnet Michèle Bongetta, Geschäftsführerin Rehaklinik Zihlschlacht und Dussnang, das Gespräch. «Wir sind sehr stark herausgefordert, auf diese Weise die Ausstrahlungskraft des Unternehmens zu fördern. Ein wesentlicher Punkt ist auch die regelmässige, individuell abgestimmte Weiterbildung unserer Fachkräfte.»


Christina Brunnschweiler, Co-CEO Spitex Zürich, stimmt zu: «Da sind wir mitten im ‹Magnet-Spitex›-Thema drin. Wir können fähige Mitarbeitende nur durch eine ausgeprägte Unternehmenskultur akquirieren und behalten, in der Abstand von starren Hierarchiestrukturen genommen wird. Von erstklassig eingespielten Teams, deren Mitglieder harmonisch zusammenarbeiten, profitieren alle: zufriedenere Betreute und die Einrichtung selbst dank höherer Wirtschaftlichkeit.»


Reizvoll, etwas Gutes zu bewegen


«Die Branche hat heute zwei Aufgaben», ist Jörg Neumann, NeumannZanetti & Partner überzeugt. «Zum einen gilt es, gemeinsam für gute Löhne und Rahmenbedingungen einzustehen. Zudem kann jedes Unternehmen die eigene Kultur stärken und weiterentwickeln. Gerade da fühlen sich viele noch unsicher, weil sie nicht wissen, wie. Leider müssen heute viele Personalabteilungen so viel Zeit ins Rekrutieren investieren, dass sie zu wichtigen anderen Aufgaben kaum noch kommen. Gerade die Human Resources Spezialisten sollten jedoch mit der Geschäftsleitung und mit den Führungskräften an einer guten Führungskultur arbeiten, damit beispielsweise Mitarbeitergespräche eine tolle Wirkung erzielen.» – Noëlle Bucher, die im Sozial- und Gesundheitsdepartement des Kantons Luzern zu 70% die Führungsposition der Departementssekretärin mit einem männlichen Kollegen teilt, unterstreicht: «In diesem Bestreben geht es darum, Führungsqualität und Unternehmenskultur unter einen Hut zu bringen. Das muss alle Bereiche umfassen und von allen mitgetragen werden.» – «Das lohnt sich sehr, es braucht allerdings einen langen Atem», fügt Joel Früh, Betriebsleiter des Betagtenzentrums Viva Luzern Eichhof, an. «Das Entwickeln einer Unternehmensstrategie geht einfacher. Bei der Kultur hingegen ist andauerndes Dranbleiben und Vorleben durch die Führung nötig. Darin muss immer wieder mit persönlicher Note investiert werden. Es geht darum, das konstruktive Miteinander zu fördern, für Befähigung zu sorgen, zu motivieren und Anreize zu schaffen, damit Ideen für Verbesserungen entstehen.»


«Die Chefs müssen es zuerst kapieren», unterstreicht Markus Irniger, Geschäftsleiter Spitex Biel-Bienne Regio AG. «Sie tragen primär die Verantwortung und müssen dafür sorgen, dass kulturelle Werte übers Kader an die Mitarbeitenden gelangen. Unternehmenskultur muss auch in der Aus- und Weiterbildung zum Ausdruck gelangen. Auch hier sind die Chefs als pacemaker gefordert. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass Abgänger die fehlende Wertschätzung als Austrittsgrund angeben. Hier ist vor allem tagtäglich Gegensteuer zu geben. Es ist eben nicht in erster Linie der Lohn, vielmehr wollen Menschen, die sich voll einsetzen, ernst genommen werden.»

Mit welcher Kultur lässt sich eine Unternehmensstrategie besser umsetzen?


«Ein gemeinsames Verständnis ist unverzichtbar», macht Michèle Bongetta deutlich. «Dabei muss die eigentliche Basis die Qualität der Patientenbetreuung sein. Hier kreativ und verantwortungsvoll zu handeln, ist die grösste Herausforderung. Dafür muss die Geschäftsleitung ihre Fachkräfte in aller Form unterstützen und motivieren. Persönlichen Einsatz zu leisten, soll richtiggehend Lust bereiten.» – «Exakt», ergänzt Noëlle Bucher. «Unternehmenskultur ist weit mehr als Arbeiten, sie muss gelebt werden. Nur
wenn alle Mitarbeitenden mitgenommen werden, vermeiden wir, dass unsere guten Absichten nur auf dem Papier stehen.» – «Die schönste Strategie nützt tatsächlich nichts, wenn die Mitarbeitenden nicht wissen, was sie selber dazu beitragen können», betont Christina Brunnschweiler.


Stefanie Kurz, Klinikdirektorin, Salina Rehaklinik, Rheinfelden, sieht gute Ansätze im Lean Management: «es ist von grossem Vorteil, wenn wir unsere Mitarbeitenden dazu befähigen, Problemstellungen im Alltag selbstständig zu analysieren und Verbesserungsideen einzubringen, sich an positiven Veränderungen aktiv zu beteiligen. Daraus entwickelt sich eine positive Unternehmenskultur, weil die Mitarbeitenden so als «interne Expertengruppe» aktiv ist. Auch tagesaktuelle Kennzahlen, die den Teams über den Erfolg oder Abweichungen im Tagesgeschäft Auskunft geben, sind hier sehr wertvoll.» – Dem pflichtet Joel Früh bei: «Dabei müssen wir auch den Mut aufbringen, uns von Mitarbeitenden zu trennen, welche die Kultur nicht mittragen. Es muss eine gute Durchdringung stattfinden.»


Und, wie Jörg Neumann nachdoppelt: «Die Geschäftsleitung und die Führungskräfte sollten ein gemeinsames Verständnis haben, was sie als Arbeitgeber auszeichnet. Dieses müssen sie vertreten und vorleben. Gleichzeitig ist es wichtig, nicht zu hierarchisch zu führen. Mitarbeitende erleben es als Motivation, wenn sie sich nicht nur bei Fachthemen einbringen dürfen, sondern auch bei anderen Themen der Zusammenarbeit. Dieses ‹in die richtige Richtung führen› und dabei Inputs und Engagement zuzulassen – das zeichnet heute gute Führungsteams aus. Schade finde ich, dass viele Führungsteams die Erfolge, die sie auf diesem Weg erzielen, zu wenig bekannt machen. Dabei würde das vielen Teams so guttun.»


Austausch auf Augenhöhe – mit Patientinnen und Patienten, aber gerade auch mit Mitarbeitenden


«Ein ausschlaggebendes Element ist die Begegnung auf Augenhöhe, sich eher weg von einer klassischen hierarchischen Führung zu bewegen. Soll eine erstklassige Betreuung der Patienten gelingen, müssen wir unseren Mitarbeitenden höchste Wertschätzung entgegenbringen und sie darin fördern, ihre wertvollen Kompetenzen vollständig einzubringen. – Hier helfen aus unserer Erfahrung definierte Standards, welche mit den Mitarbeitenden zusammen erarbeitet werden», fährt Stefanie Kurz fort. «Aufgrund dieser Basis werden Prozessabläufe und so auch die Unternehmensziele transparent. Diese kommunikative Investition lohnt sich, sie spart im Alltag enorm Zeit. Ein bedeutender Aspekt ist dabei die Bereitschaft der immer stärker zusammenarbeitenden interprofessionellen Teams mit einem gemeinsamen Ziel. Respekt, Integration und Motivation zur gemeinsamen Veränderung sind wichtig, vorschreiben allein genügt nicht. Ist ein internes oder externes Coaching nötig, ist ausreichend Zeit dafür einzusetzen, damit Wirksamkeit und Selbstverantwortung wachsen.»

Markus Irniger teilt diese Auffassung: «Umso nötiger ist es deshalb, auf Rollenspiele und Machtgefälle zu verzichten. Beides hat ausgedient, aber ich denke, vielerorts fehlt hier noch die nötige Einsicht. Das Resultat kommt aber gleich bei Fuss: Die Pflegenden laufen davon!» – «Pflegt man hingegen ausgesprochen flache Hierarchien und schätzt die Arbeit jedes Bereichs, jeder/s Einzelnen – seien es Ärztinnen, Pflegende oder Techniker – , stimmt das Vertrauen und die Freude an der Arbeit und am kommunikativen Austausch untereinander nehmen deutlich zu», bringt es Michèle Bongetta auf den Punkt.


«Gerade das Einbinden der Ärzte im Sinne einer gemeinsamen Unternehmenskultur ist dabei wichtig», fährt Jörg Neumann fort. «Das kann durchaus gut gelingen, allerdings braucht es eine gemeinsame Ebene der Kommunikation. Zunächst würde ich Ärzten auch mal sagen: ‹Ihr seid grandiose Spezialisten und das schätzen wir auch sehr›. Schliesslich ist dieser Berufsstand auf das fixiert, nicht auf Unternehmenskultur. Auf dieser Basis ist es jedoch auch wichtig, einen Beitrag zur gemeinsamen Kultur einzufordern. Auch Ärzte müssen sich an Kommunikations- oder Führungsspielregeln halten, weil sonst zu viele Emotionen entstehen. Wenn sie sich selbst nicht so viel Zeit für Führungsarbeit nehmen möchten, dann sollen sie wenigstens ihre engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dabei unterstützen und ihnen den Rücken stärken.» – «Genau auf diese Weise entstehen aus dem gegenseitigen Vertrauenszuwachs auch eine ehrliche Fehler-Kultur und eine wesentlich bessere Kommunikation», berichtet Noëlle Bucher aus ihren Erfahrungen.» … «Wobei die Kommunikationsmittel immer wieder anzupassen sind. Auch dafür braucht es Mut. Wertvoll ist dabei die sorgfältige Auswahl direkter Gespräche Aug in Aug oder das Nutzen aller zugänglichen Kommunikations-Tools», erläutert Christina Brunnschweiler und Michèle Bongetta pflichtet bei: «Denn erst, wenn volle Transparenz geschaffen ist, besteht auch ein festes Fundament für gute Entscheide» – «Entscheide, die insbesondere auch mit dem guten ‹alten› Huddle Board und teamspezifisch getroffen werden können. Die nötige Disziplin dazu führt zum gemeinsamen Willen, zusammen beste Arbeit zu leisten. Diese Befähigung wiederum bringt eine willkommene Zeitersparnis.»


Arbeitsumgebung: flexibler und exakt passend


Markus Irniger bringt ein weiteres zeitgemässes Argument ins Spiel: «Wir müssen uns als Arbeitgeber gewaltig anstrengen, wo möglich flexible Arbeitsplatz- und Arbeitszeitmodelle anzubieten. Wir müssen familiären Aufgaben unserer Mitarbeitenden Rechnung tragen und beispielsweise Kita-Plätze offerieren und auch Home Office. Es geht ums Onboarding unserer rar werdenden Fachkräfte. Sinnvoll können auch spezielle Kurse sein, die helfen, eine optimale Work-Life-Balance zu finden und die Resilienz zu begünstigen.»


«Beim Ausgestalten neuer Arbeitsplätze sind die Mitarbeitenden vermehrt miteinzubeziehen», fährt Joel Früh fort. «Möbel, Patientenbetten, Transportwagen usw. müssen ergonomisch sein, Lifte breit und problemlos zugänglich, Software und Geräte anwenderfreundlich. Es ist weitsichtig, wenn wir unsere Fachkräfte beim Entwickeln baulicher und prozessorientierter Projekte integrieren.» Übereinstimmend ergänzen Stefanie Kurz und Jörg Neumann: «All das, was heute unter dem Begriff ‹new work› zusammengefasst wird, bringt nur dann einen Imagegewinn als Arbeitgeber, wenn die Zusammenarbeit im Alltag stimmt. Im diesem Alltag fühlen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beteiligt oder immer wieder nur von Entscheidungen betroffen. Es ist wie in einem Restaurant: Als Gast freue ich mich nur dann über ein Supplement, wenn mir das Menu überhaupt geschmeckt hat.»


Es geht ums Eingemachte – Christina Brunnschweiler berichtet aus Erfahrung: «Wir verfolgen drei Hauptziele: Zufriedenheit am Arbeitsplatz, erstklassige Qualität und ausgewiesene Wirtschaftlichkeit. Das Erreichen dieser Ziele überprüfen wir monatlich, 55 von 60 unserer Teams sind hier optimal unterwegs, den andern bieten wir gründliche Hilfe an.»


Hier geht es auch um eine gute Fehler-Kultur: «Wenn die ‹Chemie› stimmt und Vertrauen besteht, kann jede Reklamation zum Fest werden», meint Michèle Bongetta, «denn Reklamationen kann man aufnehmen und aktiv bearbeiten. Das ist ein willkommener Anreiz, kreativ und innovativ auf die Reklamation zu reagieren. Daher ist das Fördern des Willens zum steten positiven Verändern eine der schönsten Aufgaben für Führungspersonen.» Wünschenswert, so das Plenum unisono, sei es, dass auch der HR-Bereich stärker unterstützen könnte und die nötigen Ressourcen für Reflexion und Personalentwicklung erhalte.


Und das Fazit all dieses steten Bemühens? – «Ganz klar», sagt Markus Irniger, «Unternehmenskultur muss zur DNA des ganzen Betriebs werden». – «Denn», setzt Stefanie Kurz einen Schlussakzent, «schliesslich sollen unsere Patientinnen und Patienten davon jeden Tag profitieren.»

NeumannZanetti & Partner, 7. Dezember 2022


Artikel teilen